Professionelle Nähe schützt besser vor Burnout als professionelle Distanz
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- 22. Mai
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„Ich lasse mich ganz auf die Patienten und ihre Angehörigen ein und dann nehme ich das auch mit nach Hause,“ sagt die Teilnehmerin. Sie sieht blass aus und spricht mit einer spitzen, etwas nasalen Stimme. Sie sitzt in einer fragilen Position am Tisch, bei der der Körper keinen Halt in sich selbst findet. Eine Serpentinenfigur, die jeden Moment das Gleichgewicht verlieren und umstürzen könnte.
„Ich versuche mich mit dem, was Sie hier Pseudoempathie nennen, zu distanzieren, und jetzt ist das auch wieder nicht richtig. Sagen Sie mir doch mal, wie ich es richtig machen soll mit der professionellen Nähe, von der Sie hier die ganze Zeit reden,“ ergänzt sie und klingt dabei durchaus anklagend.
Weder die theoretischen Erklärungen noch die reflexiven Übungen haben diese Teilnehmerin erreicht. Was braucht sie jetzt, nachdem bereits dreiviertel des Seminars vergangen ist?
Ihr erster Satz zeigt, dass sie die Selbst-Andere-Differenzierung nicht vollziehen kann, die in empathischen Prozessen eine große Rolle spielt. Die Unterscheidung von Ich und Du als verschiedenen Quellen von Gefühlen gelingt nicht mehr. Die Gefühle der Eltern, mit denen sie auf der Intensivstation Kontakt hat, überwältigen sie, als wären es ihre eigenen. Sie erlebt empathischen Stress.
Die Teilnehmerin hat längst bemerkt, dass sie so nicht weiter machen kann. Seit einiger Zeit versucht sie durch pseudo-empathische Reaktionen eine vermeintlich professionelle Distanz zwischen sich und die Eltern und deren Gefühle zu legen.
Pseudo-empathische Reaktionen als Mittel professioneller Distanz
Eine pseudo-empathische Reaktion ist eine sozialadäquate Verhaltensweise, die der äußeren Form nach freundlich und durchaus empathisch erscheinen kann. Das sind Sätze, wie „Kopf hoch, wird schon wieder“, „Mach dir doch nicht so viele Sorgen, du kriegst das schon in den Griff“ oder „Das ist doch nicht so schlimm, das bringen wir ganz schnell wieder in Ordnung.“ Das Ziel ist aber nicht das tiefere, empathische Einlassen auf die Situation der anderen Person und ihre Gefühle. Pseudo-empathische Reaktionen ermöglichen die Unterbrechung eines emotional belastenden Kontakts.
Die pseudo-empathischen Reaktionen haben der Teilnehmerin bisher nicht geholfen. Solche Reaktionen nutzen wir alle im Alltag mehr oder weniger häufig. Sie sind ein natürlicher Schutzmechanismus vor empathischem Stress. Im beruflichen Kontext erhöhen sie das Risiko für psychosomatische Beschwerden und Burnout. Pseudo-Empathie ist mit Nicht-Authentizität verbunden. Eine andere Teilnehmerin schilderte das einmal so: "In mir tobt der Wirbelsturm, aber nach außen lächle ich." Dieses Phänomen ist als emotionale Dissonanz arbeitssoziologisch gut beschrieben und gilt als einer der Hautpbelastungsfaktoren in Dienstleistungeberufen.
Professionelle Nähe achtet das Gegenüber und schützt die eigene Seele
Aber zurück zu der Teilnehmerin. Was braucht sie in diesem Moment? Ich überlege einen Augenblick. Dann frage ich: "Ich hätte einen Rat für Sie. Wollen Sie ihn hören?" Sie antwortet: "Ja". "Können Sie sich vorstellen, beim nächsten Mal in so einer Situation innerlich zu sich selbst zu sagen: 'Ich sehe deine Not, aber ich lasse sie bei dir. Und ich wünsche dir die Kraft, sie zu bewältigen." Die Teilnehmerin stutzt einen Moment. Dann antwortet sie wieder mit einem klaren: "Ja". Sie richtet sich auf, setzt sich gerade hin und schaut mich mit entspanntem Gesicht an.
Im Kontakt mit dieser Teilnehmerin fühlte ich mich als Seminarleiter während der beiden Seminartage mehrfach unwohl. Immer wieder hatte sie gefragt, wie sie "es denn richtig" machen solle. Mehrfach signalisierte sie, dass ihr weder die referierten Inhalte noch die Übungen etwas brachten. Manchmal bin ich in solchen Situationen versucht, die Dosis zu erhöhen, noch mehr zu erklären, noch intensiver auf einzelne Teilnehmer*innen einzugehen. Auch der Seminarleiter hat schließlich das Bedürfnis, einen Effekt zu erzielen. Den Satz, den ich ihr für die Beziehungsarbeit mit schwer belasteten Patient*innen und Angehörigen mitgab, sprach ich eigentlich zu ihr. Und das war genau das, was ihr geholfen hat. Ich habe ihre Not gesehen, sie ihr gelassen und ihr die Kraft gewünscht, sie zu bewältigen. Auf diese Weise kam ich ihr so nahe, wie es an diesem Tag eben möglich war.
Du willst mehr über Pseudo-Empathie und professionelle Nähe wissen? Dann lese unseren Beitrag: https://www.empcare.de/post/kann-es-auch-zu-viel-empathie-geben
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