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Elektrizität, Empathie und Kurzschlüsse

Aktualisiert: 3. Aug. 2023

Als kleines Kind die Welt entdeckend, machte ich gerne auch mal Experimente. An einem langweiligen, grauen Tag wollte es der Zufall, dass sich eine Steckdose in Augenhöhe des auf dem Boden sitzenden Kindes befand und in seiner Reichweite eine Stricknadel herumlag. Und sogleich entstand die elektrisierende Frage, wie tief sich denn wohl die Nadel in so eine Steckdose schieben lässt. Offensichtlich habe ich das Experiment überlebt, ein paar Funken flogen, ein starkes Kribbeln durchströmte meine Finger – und dann Dunkel. Der Rest der Familie, die Ursache nicht ahnend, war wenig amüsiert. Schon wieder ein Kurzschluss?, hörte ich meine Mutter sagen, und setzte schleunigst meine unschuldigste Mine auf.


Ein rotes und ein blaues Kabel, an den freigelegten Kupferenden entsteht ein Kurzschluss. Vor einem schwarzen Hintergrund erscheint das Gebilde insgesamt sehr ästhetisch.
Schön und gefährlich - ein elektrischer Kurzschluss


Jahrzehnte später sprechen wir im empCARE-Team über empathische Kurzschlüsse. Fließt ein zu hoher, nennen wir es mal emotionaler Strom zwischen zwei Menschen, passiert dasselbe wie beim elektrischen Kurzschluss. Entweder überhitzt die Leitung oder die Sicherung springt heraus und die Leitung wird unterbrochen. Menschen haben einen starken Schutzmechanismus gegen emotionale Überforderungen. Victoria Schönefeld hat in ihrer während des empCARE-Projekts entstandenen Dissertation [Link s.u.] sehr genau beschrieben, wie unsere innere Bewertungsinstanz, das Appraisal, unbewusst bewertet, ob wir eine Situation als starke Belastung wahrnehmen und ob wir uns gewachsen fühlen, sie zu bewältigen. Wie die Sicherung im elektrischen Kreislauf sorgt das Appraisal gegebenenfalls für eine Unterbrechung des emotionalen Stroms zwischen zwei Personen.


Der empathische Kurzschluss und seine Tücken


Dieser emotionale Schutzmechanismus wirkt auch bei allen Formen professioneller Interaktionsarbeit. Beschäftigte in Pflege- und Sozialberufen verfügen über ein breites Repertoire, um die eigenen und die Gefühle ihrer Klient*innen schnell zu regulieren und dabei die Kontaktunterbrechung in sozial akzeptierter Form herbeizuführen.

In einer der Übungen des empCARE-Programms locken wir solche Reaktionen hervor. Wir nennen sie pseudo-empathisch. Wir fragen die Teilnehmer*innen zunächst nach ihren Gefühlen gegenüber einem Klienten, der in einer schwierigen Lage ist, und sie gleichzeitig durch sein Verhalten herausfordert. Anschließend fragen wir nach ihren Reaktionen auf sein Verhalten. Auch, wenn sie die Gefühle Anspannung, Frustration oder Ärger spüren, antworten sie dem Klienten in der Regel mit „Das wird schon wieder.“ „Kann ja jedem mal passieren.“ oder „Kopf hoch, das schaffen Sie schon.“ Sie zeigen nach außen also andere Gefühle als die, die sie innerlich spüren. In der Arbeitssoziologie wurde dafür der Begriff emotionale Dissonanz geprägt.


Während wir alle im Alltag pseudo-empathische Reaktionen zum Schutz vor emotionaler Überwältigung benutzen, ohne dass es uns oder unseren Beziehungen dauerhaft schadet, verliert dieser Mechanismus im beruflichen Kontext oft genau diese schützende Funktion. Das geschieht insbesondere in den Pflege- und Sozialberufen. Das hat drei Gründe.

  • Emotional herausfordernde Interaktionen finden in hoher Dichte statt.

  • Die Kontakte zu den Klient*innen haben eine hohe Relevanz für die berufliche Zufriedenheit.

  • Pseudo-empathische Reaktionen sind damit verbunden, sich als nicht authentisch zu erleben. Das wiederum ist ein Wirkfaktor bei der Entwicklung eines Burnout.

In den empCARE-Seminaren ermöglichen wir es den Teilnehmer*innen mit ihren Gefühlen in Kontakt zu bleiben, auch wenn es negative sind. Sie können sie ausdrücken, ohne sie selbst zu bewerten oder von anderen bewertet zu werden. Für mich als Seminarleitung ist die Beobachtung der Teilnehmer*innen während dieser Übungen immer wieder eine bewegende Erfahrung. Wenn Menschen sich plötzlich grade machen, die Augen weiten und ein Lächeln ins Gesicht tritt (sichtbar auch während der Zeiten, in denen wir in den Seminaren Mund-Nasen-Schutz trugen).

Während das neugierige Kind in mir vor Jahrzehnten testete, welche Tiefen eine Steckdose hat, zeigt sich das Kind im Seminarleiter heute interessiert an den Tiefen des Erlebens der Seminarteilnehmer*innen und macht ein Angebot die Emotionskabel zwischen Menschen so auszurüsten, dass empathische Kurzschlüsse vermieden werden und lauter angenehme Erfahrungen entstehen.


Eine Person in heller Kleidung hält in den zu einer Schale geformten Händen eine Lichterkette.
Empathie zeigen heißt auch sich Licht zu schenken



Literatur:


Schönefeld V / Altmann T (2021) Theoretischer Hintergrund des empCARE-Trainings – Empathiedefinition, zentrale Konzepte und Wirkmechanismen. In: Thiry L / Schönefeld V / Deckers M / Kocks A (2021) empCARE : Arbeitsbuch zur empathiebasierten Entlastung in Pflege- und Gesundheitsberufen | SpringerLink

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