Seit Wochen gehen mir die unendlich müden, glasigen Augen von, nennen wir sie Irene nicht aus dem Sinn. Sie ist etwas älter als sechzig Jahre und arbeitet als Pflegehelferin. Das macht sie schon mehrere Jahrzehnte. Jetzt geht alles nicht mehr so schnell wie früher, aber die Zeitkontingente für die Besuche bei den Kundinnen und Kunden haben sich ihrem Alter nicht angepasst. Sie sei zu langsam, kriegt sie immer wieder zu hören.
Das ist nicht die einzige Demütigung, von der sie erzählt. Da war auch noch der Kunde mit einem neuen Ernährungssystem, das sie nicht kannte und mit dem sie nicht klarkam. Er kanzelte sie rüde ab und beschimpfte sie. Schließlich musste sie eine Fachkraft rufen und die setzte noch eins drauf: „Ach ja, Du kannst das ja nicht wissen, Du bist ja nur Pflegehelferin.“ kriegte Irene zu hören.
Jetzt hat Irenes Chef sie in dieses Seminar geschickt. Was war wohl seine Intention? Wollte er Irene einfach etwas Gutes tun? Verspricht er sich eine bessere Arbeitsleistung? Oder soll Irene empathischer werden?
Irene hat diese Fragen nicht gestellt. Sie ist zum Seminar gekommen, weil der Chef es gesagt hat. Sie will nicht anecken, keinen Ärger machen, auch im Seminar nicht. Also arbeitet sie mit, ist offen auch für Übungen, die den Teilnehmerinnen etwas abverlangen.
Und dann überwältigt sie immer wieder ihre Erschöpfung. Die Augen fallen zu, der Kopf sinkt ein wenig nach vorne. Dann schreckt sie wieder hoch, sieht sich um, ob jemand mitbekommen hat, dass sie eingenickt ist. Es ist ihr peinlich.
Neben allem, was Teilnehmerinnen und Teilnehmer über sich selbst, über Empathie und einen gesunden Umgang damit lernen können, war es für Irene wahrscheinlich die wichtigste Erfahrung, nicht für eine Schwäche gemaßregelt zu werden, mit der Schwäche angenommen zu sein, ohne abwertenden Kommentar, überhaupt ohne Kommentar.
Selbstwirksamkeit stärken, Selbstannahme unterstützen, reflexives Lernen ermöglichen beginnen damit, Irene anzunehmen, wie sie ist, wohlwollend und mit ihren Schwächen.
Das Foto zeigt natürlich nicht Irene. Es ist von Benjamin Balasz und heißt unspezifisch "Granny".
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