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Wut - ein ganz besonderes Gefühl

Autorenbild: [LT][LT]

Ich moderiere eine Fallarbeit in einem empCARE-Seminar. Es geht um einen jungen Mann, der körperlich zu mehr imstande wäre als er macht. Durch Unaufmerksamkeit und Ungeschicklichkeit hat er ein Malheur verursacht. Das macht der Pflegeperson in einem ohnehin stressigen Spätdienst zusätzliche Arbeit.

Ich frage spontane Reaktionen ab. Ein Teilnehmer richtet sich auf, die Augen werden groß, er gestikuliert heftig und schimpft los: „Also den lass ich jetzt erst mal in seinem Scheiß liegen. Das hat ja auch einen erzieherischen Effekt.“

Die anderen Teilnehmer*innen reagieren unterschiedlich auf diesen Wutausbruch. Manche haben Verständnis für den Ärger, andere finden seine Reaktion unmöglich. Alle erwarten von mir als Seminarleiter eine Einordnung und Bewertung. Sie sind ein wenig überrascht, dass ich zunächst nichts dazu sage. Dazu später mehr.


Ein junger Mann steht vor einem neutralen Hinntergrund, zieht eine grimmige Grimasse und hebt die rechte Faust.
"Den lasse ich erst mal in seinem Scheiß liegen", sagte der Teilnehmer

Zuerst sehen wir uns an, was eigentlich Wut ausmacht, wie sie entsteht, welche Funktion sie hat und wann sie destruktiv wird.


Jeder Mensch kann wütend werden

Wut ist eine Basisemotion, die universell bei allen Menschen unabhängig von sozialen oder kulturellen Hintergründen auftreten kann. Die physiologischen Abläufe sind immer gleich. Bei dem Teilnehmer im Seminar hätte man sicher eine Erhöhung der Herzfrequenz und eine Erweiterung der peripheren Gefäße bemerken können. Wütende Menschen haben oft einen hochroten Kopf. Der Sympathikus ist im Wutanfall aktiviert und die Spiegel der Hormone Adrenalin und Noradrenalin steigen an.

Während die Physiologie der Wut bei allen Menschen mit graduellen Unterschieden gleich ist, sind die Ausdrucksformen der Wut von Sozialisation und kultureller Prägung abhängig. Der Teilnehmer im Seminar zeigt sie durch das Aufrichten des Körpers, durch heftiges Gestikulieren und eine laute Stimme. Wut zeigt sich auch in einem Vokabular, das eine andere Person oder Gruppe angreift oder herabsetzt. Der Teilnehmer aus dem Seminar wählt eine drastische Sprache und will den Patienten „in seinem Scheiß liegen lassen.“


Wut ist meist mit Werturteilen verknüpft

Stärker als andere Emotionen ist Wut kausalattribuiert. Das bedeutet, Schuld haben immer die anderen. Für das Auslösen der Wut ist aus Sicht der Wütenden das Verhalten einer anderen Person oder einer Gruppe von Personen verantwortlich. Oft geht es dabei um die Verletzung eigener Normen. Die anderen sind schuld, dass ich wütend bin, denn sie haben ein Verhalten gezeigt, das ich moralisch verurteile und deswegen ist meine Wut berechtigt. Die Soziologin Ute Frevert erklärt, dass sich Wut deshalb besonders gut als politisches Gefühl eignet. Die Emotionsregulation ist reduziert, die Wütenden sind rationalen Argumenten kaum zugänglich, die Wut ist mit moralischen Urteilen verknüpft und vor allem, der andere Mensch ist die Ursache der Wut. Frevert beschreibt, wie die Nationalsozialisten sehr bewusst und gezielt eine Art Gefühlspolitik betrieben, mit der sie Wut und Hass insbesondere auf jüdische Mitbürger*innen lenkten.

Dass Wut eng mit Werturteilen zusammenhängt, ließ sich auch im Seminar beobachten. Es gab drei moralische Haltungen innerhalb der Seminargruppe zu dem Wutausbruch des Teilnehmers. Eine Gruppe verurteilte die Wut grundsätzlich. Eine Gruppe zeigte Verständnis, denn so ein junger Mann, wie im Fallbeispiel, müsse sich doch auch mal zusammenreißen. Die dritte Gruppe verurteilte die Wut gerade deshalb, weil sie sich gegen einen so jungen Mann richtete. Man müsse doch Geduld haben, weil dessen Leben von heute auf morgen auf den Kopf gestellt worden sei. Für den Teilnehmer mit dem Wutausbruch, war diese Diskussion eine erst Gelegenheit zur Reflexion und Relativierung seiner Haltung. 


Verdrängung von Wut führt zu Burnout oder Aggression

Wir wissen nicht, ob er seine Ankündigung „Den lass ich erst mal in seinem Scheiß liegen“ im realen Arbeitsleben wahrmachen würde. Gut möglich, dass er Ärger und Wut im Alltagsgeschäft zu unterdrücken weiß. Die berufliche Sozialisation von beruflich Pflegenden verlangt von ihnen die Kontrolle oder gar Verdrängung eigener Gefühle. Eine Teilnehmerin an unseren Seminaren beschrieb es einmal so: „In mir tobt der Sturm, aber nach außen bin ich ganz ruhig.“ Dieses Phänomen ist als emotionale Dissonanz in der Arbeitssoziologie beschrieben, gilt als besonders belastender Faktor in allen Dienstleistungsberufen und kann ins Burnout oder Coolout führen.

Die Psychologin Heidi Kastner warnt vor einer permanenten Unterdrückung von Wut. Sie sei nämlich ein Warnsignal dafür, dass jemand unsere Grenzen überschritten hat und über ein für uns zentrales Bedürfnis hinweggeht. Die Verdrängung von Wut erhöhe die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich irgendwann als Aggression Bahn bricht. Kastner setzt damit die wichtige Unterscheidung zwischen der Wut, die uns die Verletzung einer unserer Normen anzeigt, und der Aggression, die auf Verletzung oder gar Vernichtung des Gegenübers zielt. Die schockierenden Fälle von Gewaltanwendungen durch Pflegende bis hin zum Mord mögen eine längere Vorgeschichte der Verdrängung und Entfremdung von den eigenen Gefühlen haben. Ein besserer Weg wäre es, sich bewusst zu machen, welche Norm verletzt wurde, welches Bedürfnis unerfüllt ist und einen konstruktiven Weg zu einer Lösung zu suchen.


Wut im Seminar

Was bedeutet das nun alles für die Arbeit in der Erwachsenenbildung im Allgemeinen und für die Didaktik von empCARE-Seminaren im Besonderen, die ja der Prävention von Burnout dienen?

Ein Seminar ist keine Alltagssituation. Es ermöglicht das risikolose Erproben neuer Verhaltensweisen – wenn die Seminarleitung und die Seminargruppe es zulassen. Damit die Reflexion der eigenen Haltungen und Verhaltensweisen gelingt, damit Spielräume für ihre Erweiterung entstehen, ermöglichen wir den Teilnehmer*innen eigene Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Im zweiten Schritt können sie neue Ausdrucksmöglichkeiten für Gefühle und Bedürfnisse erproben, die weder andere noch sie selbst weiter verletzen. Wir ermöglichen ihnen das „leidenschaftslose Betrachten der Leidenschaften“, wie es der Bildungswissenschaftler Rolf Arnold genannt hat. Die Akzeptanz der Gefühle öffnet den Teilnehmer*innen einen Raum, in dem Fühlen und Denken zusammenwirken können.

In der beschriebenen Situation habe ich als Seminarleiter zur anfänglichen Verwunderung der Seminargruppe den wütenden Teilnehmer weder kommentiert, geschweige denn korrigiert. Empathie bedeutet auch, starke Gefühle eines anderen Menschen wertfrei und manchmal kommentarlos zu ertragen, oder besser mitzutragen. Ich habe lediglich die verschiedenen Reaktionen in der Gruppe auf der Metaebene beschrieben und zusammengefasst und die Teilnehmenden eingeladen, die unterschiedlichen Normsetzungen wahrzunehmen. Der Teilnehmer selbst stand dabei als Person nicht im Mittelpunkt, ich habe ihn nicht einmal direkt angesprochen. Ohne direkte Konfrontation erlebte er aber, dass sein Werturteil über den Patienten nicht absolut ist und nicht von allen geteilt wird.

Und wie reagierte nun dieser Teilnehmer? Er hörte sich die Diskussion in der Seminargruppe seinerseits ohne weiteren Kommentar oder Rechtfertigung an. Er arbeitete anschließend über die zwei Seminartage recht intensiv mit und ließ sich auch auf besonders anspruchsvolle reflexive Übungen ein. Das ist bemerkenswert, denn er gehörte zu denjenigen, die von ihren Vorgesetzten zur Teilnahme an dem Seminar verpflichtet worden waren und seine Unzufriedenheit damit gleich zu Beginn ausdrückte. Sein Wutausbruch zu einem frühen Zeitpunkt im Seminarverlauf war also möglicherweise auch so etwas wie ein Protest oder ein Test, wie tragfähig die Beziehung zum Seminarleiter ist. In der Abschlussrunde antwortete er auf die Frage einer anderen Teilnehmerin, ob er denn etwas aus dem Seminar mitnehme: „Ja, das war schon gut. Er (der Seminarleiter) musste eigentlich nix machen und hat mich in Ruhe gelassen. So konnte ich Dinge für mich klären.“


Hinweis: empCARE ist kein klassisches Deeskalationstraining. Es wirkt aber im Vorfeld von potenziellen Konflikten. Dieser Blogbeitrag enthält Überlegungen zur Reflexion von Wut bei Teilnehmer*innen speziell in der Erwachsenenbildung.


Medien


Ute Frevert

Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung. Deutsche Geschichte seit 1900. S. Fischer


Heidi Kastner

Wut. Plädoyer für ein verpöntes Gefühl. Kremayr & Scheriau

Mehr Wut wagen. Sternstunde Philosophie: https://www.youtube.com/watch?v=1G30IgrS-D4


Rolf Arnold

Die emotionale Konstruktion der Wirklichkeit. Beiträge zu einer emotionspädagogischen Erwachsenenbildung. Schneider Verlag Hohengehren, Baltmannsweiler


Ludwig Thiry

Vierdimensionale Didaktik – eine Einladung zum reflexiven Lernen. In empCARE – ein Arbeitsbuch zur empathiebasierten Entlastung in Pflege- und Gesundheitsberufen. Springer

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